
Der Bericht von Reinhard Frank aus der Eckernförder Zeitung steht auch als gut lesbare pdf-Datei zur Verfügung.
Kieler Nachrichten
Lokalausgabe Eckernförder Nachrichten vom 05.10.2020, Seite 19
Die Kunst, genau hinzuschauen
Wilhelm-Lehmann-Preis an Nora Bossong vergeben – Autorin fühlt sich in Lyrik und Prosa gleichermaßen heimisch
Eckernförde. Die Schriftstellerin Nora Bossong ist Sonnabendvormittag im Eckernförder Ratssaal mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis ausgezeichnet worden. Während der Dichter Lehmann vor allem für seine Naturlyrik bekannt ist, wollte die Jury mit der Preisverleihung insbesondere über Bossongs Roman „Schutzzone“ auch an das erzählerische Werk des Eckernförder Literaten anknüpfen.
„Die Jury war frei, diesmal wurde der Preis ausdrücklich für erzählende Prosa verliehen“, erläuterte Wolfgang Menzel, Vorstandsmitglied der Lehmann-Gesellschaft, während des Festaktes. Gezählt habe einzig und allein die literarische Qualität. Dass die Jury mit ihrer Wahl bereits Anfang des Jahres ins Schwarze getroffen hatte, zeigte die Auszeichnung Bossongs vor einer Woche mit dem renommierten Joseph-Breitbach-Preis und diesen November in Lübeck mit dem Thomas-Mann-Preis.
Unter dem Motto „welthaft“ standen die diesjährigen Wilhelm-Lehmann-Tage, was soviel bedeutet wie „mit Welt behaftet“. Dies trifft insbesondere auf das Werk von Nora Bossong zu, die in ihrem 2019 veröffentlichten Roman „Schutzzone“ die unübersichtlichen Strukturen der Weltpolitik und die Verselbstständigung von Bürokratie thematisiert. Ihre Roman-Heldin Mira Weidner arbeitet bei den Vereinten Nationen und ist an den Brennpunkten dieser Welt präsent. Die literarische Sprache würdigte Menzel als „kunstvoll, präzise und genau beobachtend“.
Damit ist sie wieder ganz nah bei Lehmann. 100 Jahre später sei Nora Bossong eine der wenigen deutschen Schriftsteller, die sich – wie Lehmann – in beiden Genres, der Lyrik und der Prosa, heimisch fühlten, sagte Preis-Laudator Carsten Otte. Bossong tauche ein in die unmittelbare Umgebung, stelle sie aber in einen globalen Zusammenhang. Damit sei sie eine Seelenverwandte des Eckernförder Dichters, den in einem Gedicht das Tuten der Torpedoabschüsse in der Bucht um den Schlaf brachte. Im sprachlichen Kern blieb Lehmann hingegen unpolitisch.
Bossong, so Otte, verknüpfe die moralische Ambivalenz der politischen Weltbühne mit den Doppelbödigkeiten des Alltags. Dabei finde sich in den Tiefen ihrer Texte ein klares Bekenntnis zur Menschenwürde. „Wie viele Tote soll die Welt noch schlucken“, fragte die Preisträgerin in ihrer Rede. Sie zweifelte, dass Kultur den Menschen zu etwas moralisch Besseren machen könne. „Was aber Literatur machen kann, ist, eine Erinnerung wachzuhalten“, sagte Bossong. „Und darauf hinzuweisen, dass wir Frieden oft nur vortäuschen und Krieg leichtfertig hinnehmen.“
Lehmann hatte in seinem Roman „Der Überläufer“ die Unausweichlichkeit von Krieg kritisch betrachtet, gar sein eigenes Desertieren behandelt. Mit Bossong verbindet ihn die Schulung aus der Lyrik, die, so die Autorin, „die Fähigkeit schafft, genau hinzuschauen“. Sie selbst arbeitet derzeit an einem Essayband mit politischen Texten, der im Frühsommer erscheinen soll, sowie an einem neuen Roman, dessen Thema sie noch nicht verraten wolle.
Im Vorfeld der Preisverleihung hatte die Willhelm-Lehmann-Gesellschaft getagt. Bei den Wahlen wurde der Vorstand bestätigt mit der Vorsitzenden Beate Kennedy, dem Stellvertreter Wolfgang Menzel, der Schriftführerin Antje Nottrodt und dem Kassenwart Dietrich Fröhler. Am 13. Dezember plant die Gesellschaft eine Lesung des Kieler Schriftstellers Arne Rautenberg im Eckernförder „Spieker“. Ferner wird Nora Bossong an der Jungmannschule Mitte Oktober einen Literatur- und Politik-Workshop geben, in dem es um genaues Hinsehen und Zuhören geht.
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